Mein Auslandsjahr in Costa Rica neigt sich langsam dem Ende zu

27.06.2022

Zehn Monate bin ich nun hier in Costa Rica… Es ist Mai und ich kam gerade von meinem letzten Ausflug mit meiner Organisation zurück. Der Gedanke, dass in sechs Wochen das Auslandsjahr endet, hat alle Austauschschüler/innen die letzten Tage sehr traurig gemacht. Eine positive Sache gibt es - bald können wir wieder unsere Eltern in den Arm nehmen.

Dieses Jahr verging wie im Flug, jedoch wenn ich mich auf die positiven und negativen Ereignisse und Eindrücke zurückerinnere, merke ich erst, wie lange ich überhaupt schon hier bin. Inzwischen habe ich viele Ecken des Landes kennen gelernt. Ich war an unzähligen Vulkanen und Stränden (sowohl am Pazifik als auch in der Karibik), im Surfcamp, in einer Tierauffangstation, wo ich mich um kranke Tiere gekümmert habe und bin oft im Regenwald spazieren gegangen. Inzwischen denke ich an meine Familie in Deutschland nur noch selten, da ich oft unterwegs bin.

Die zweieinhalb monatigen Sommerferien in der Trockenzeit von Dezember bis Mitte Februar waren anfangs keine einfache Zeit. Zum einen brachen sämtliche Kontakte zu Mitschüler/innen und Freunden weg und es fiel in die besinnliche Weihnachtszeit und das groß zelebrierte Silvester. Mit der Umstellung, meinen Tag mit Aktivitäten zu füllen, tat ich mich anfangs schwer, da meine Gasteltern viel gearbeitet haben und wenig Zeit hatten und meine Gastgeschwister nicht die Aktivsten sind. Aber im Januar fuhren wir in den Urlaub, ich war öfter mit Freunden am Strand und auf Ausflügen und die Zeit verging im Nu. 

Auch wenn mein Auslandsjahr sich unbeschreiblich schön anhört, musste ich mit vielen Tiefen umgehen, was man von außen nicht wirklich wahrnimmt. Ich hatte eine Zeit lang große Probleme mit meinen Gastgeschwistern, so dass ich fast die Familie gewechselt hätte. Auch die spanische Sprache hat mich oft ins Zweifeln gebracht, ob Costa Rica wirklich eine gute Wahl war. Ab dem sechsten Monat konnte ich erst fast alles verstehen. Durch Nachfragen aus der Familie und von Freunden habe ich mich extrem unter Druck gesetzt gefühlt.

Jetzt - kurz vor Ende meines Auslandsjahres- kann ich sagen, dass ich nichts bereue. Inzwischen habe ich mich in das Land verliebt. Ich habe gelernt, mich von anderen Meinungen und Aussagen nicht runterziehen zu lassen, immer an mich zu glauben und nach vorne zu schauen, auch wenn eine Woche nicht so lief, wie man es sich vorgestellt hatte. Ein Auslandsjahr ist alles andere als einfach.

Nach ca. acht Monaten hatte meine Gastmutter das starke Vertrauen in mich, sodass ich auch oft alleine rausgehen durfte. Die einzige Voraussetzung war, sie muss wissen, wo und mit wem ich unterwegs bin. Das habe ich absolut respektiert, weil Costa Rica ein Land ist mit einer hohen Kriminalitätsrate (aber das sicherste Land in Mittelamerika).

Das Hupen, Hinterherpfeifen und sexuelle Anmachen von Männern auf der offenen Straße hatten mich anfangs abgeschreckt, rauszugehen: Inzwischen ist es für mich Alltag geworden, auf das ich aber ruhig verzichten könnte. Es kam auch schon mehrfach vor, dass ich ein unwohles Gefühl hatte, weswegen ich mich dann in die Nähe von Polizisten und Securityleuten aufgehalten habe. Es ist zum Glück noch nie etwas passiert, da ich mich immer an die Regeln, die mir meine Organisation und meine Gastmutter vorgaben, gehalten habe.

Mit Diskriminierung musste ich oft umgehen, nicht dass ich diskriminiert wurde, aber z.B. Homosexuelle und vor allem Leute aus dem Nachbarland Nicaragua werden hier nicht akzeptiert.

Meine Gastmutter ist der wichtigste Mensch in meinem Auslandsjahr. Sie ist immer für mich da und gibt mir die Liebe, nach der man sich sehnt und die man sich oft wünscht. Es freut mich sehr, dass sie sich um mich sorgt. Es gibt mir das Gefühl, ihr sehr wichtig zu sein.

Schon in den ersten Wochen in Costa Rica fehlte mir eine Umarmung oder einfach der Satz,

„Ich habe dich lieb!“. Das wird einem erst bewusst, wenn man ganz alleine ist und sich ein neues Leben aufbauen muss. Mein gutes Spanisch habe ich ihr zu verdanken! Auf den langen Autofahrten durch den starken Verkehr redeten wir oft mehrere Stunden. In Costa Rica braucht man schon mal für 15km zwei Stunden.

An das Essen musste ich mich anfangs gewöhnen, denn es gab jeden Tag zwei Mal Reis. Aber nach einem kurzen Gespräch mit meiner Gastmutter hat sie mir Lebensmittel gekauft und gekocht, die ich mal wieder essen wollte. Zwar gab es diese dann jede Woche mindestens zwei Mal, aber nicht mehr jeden Tag Reis. Auch wenn wir zu Obst- und Gemüse-Märkten gefahren sind, hat sie mir jede Frucht vorgestellt und zum Probieren gekauft. Mit meiner vegetarischen Ernährungsweise hatte die Gastfamilie gar kein Problem. Das ist aber nicht üblich in Costa Rica. Oft musste ich böse Blicke und Sätze, die mich etwas verletzt hatten, kassieren. Andere Austauschschüler/innen von meiner Organisation sind Vegetarier oder Veganer und mussten wegen ihrer Gastfamilie wieder mit dem Fleischkonsum anfangen. Meine Familie nahm Rücksicht und stellte viele Gerichte um, sodass wir alle das Gleiche essen konnten.

In der Schule komme ich inzwischen gut zu Recht. In den Pausen bin ich immer mit meinen Freunden unterwegs. In den spanischsprachigen Fächern kann ich mich mittlerweile aktiv mit Wortbeiträgen beteiligen. Fragen und Probleme kläre ich alles in Spanisch. Seit Beginn des neuen Schuljahres (im Januar) habe ich kaum noch Fächer auf Englisch. Das merke ich auch im Englischunterricht, wenn mir oft nur das spanische Wort einfällt. In meinem Kopf ist ab und zu solch ein Durcheinander mit den drei Sprachen, dass ich oft auch mal froh bin nur für mich zu sein, wo ich gar nicht sprechen muss.

In der Schule habe ich mich zum neuen Schuljahr für die Schulmannschaft beim Volleyball und Cheerleading beworben und wurde bei beiden aufgenommen. Als ich das erfahren habe, war ich sehr glücklich. Im Juni steht auch unser erster Wettbewerb vom Cheerleading an, für welchen wir jeden Montag nach der Schule für zwei Stunden trainieren. Beim Volleyball trainieren wir Donnerstag für zwei Stunden. Spiele haben wir im Moment noch nicht, aber ich denke, dass sich das noch ändern wird. Bei diesen Aktivitäten habe ich neue Schüler/innen aus den verschiedensten Jahrgängen kennengelernt.

An meine Schule gehen circa 1000 Schüler/innen. Kindergarten, Grundschule und Sekundarstufe sind hier auf einem Gelände. Der Schulhof ist groß, es gibt eine Cafeteria mit Essen, welches wirklich sehr lecker ist. In der riesigen Turnhalle finden regelmäßig Wettkämpfe gegen andere Schulen statt. Diese Tage sind immer am besten. Alle Schüler/innen der Sekundarstufe treffen an diesem Tag in der Turnhalle ein und feuern unsere Schule mit Trommeln, Klatschen und lautem Geschrei an. In dieser Zeit fällt bei uns der Unterricht aus und mindestens 300 Schüler/innen feiern zusammen das Spektakel. Unser Schulgebäude ist offen. Die Gänge sind draußen und nur die Klassenzimmer befinden sich drin (so wie man es manchmal von Zugängen zu Hotelzimmern kennt).

Meine Schule ist katholisch, weswegen ich schon oft an Gottesdiensten und Gebeten teilnehmen musste. Anfangs war es neu und ungewohnt für mich, aber inzwischen gehört es zu meinem Alltag morgens vor der ersten Stunde ein Gebet zu hören. Natürlich gibt es auch unreligiöse Schüler/innen auf meiner Schule, die genervt auf die religiösen Aktivitäten reagieren. Von den anderen Religionen bekomme ich hier nichts mit. Ich sehe selten Asiaten und noch nie habe ich eine Frau mit einem Kopftuch gesehen.

Wir haben eine eigene Kirche, in der die Gottesdienste ausgeführt werden. Während der Pandemie wurde dieser durch Livestream über Facebook in jeden Raum übertragen. Jetzt passiert alles in der Turnhalle, weil die Kirche zu klein ist.

Während Corona hatten wir vor den Sommerferien, also 2021, eine Woche Präsenzunterricht und eine Woche zu Hause virtuell über Teams lernen. Seit Februar können wir glücklicherweise jeden Tag zur Schule gehen. Maskenpflicht haben wir auf dem gesamten Schulgelände und den Einhalt des Mindestabstands müssen wir die ganze Zeit gewähren.

Es ist sehr interessant die Rituale der Ticos kennen zu lernen, bspw. zu den Feiertagen und wenn jemand verstirbt. Manche Traditionen finde ich sogar so schön, dass ich mir wünschte, diese auch in Deutschland zu haben, z.B. wird in jeder Familie am 23. Dezember das traditionelle Gericht, „Tamales“ als Familie zusammen zubereitet, …

Den Costa-Ricanern ist ihre Natur sehr wichtig, weswegen sie nie Müll in die Natur werfen und an Silvester so gut wie gar nicht geknallt wird. Für die verschmutzten Strände sind meist die tausenden von Touristen schuld.

Meine Freizeit verbringe ich viel mit meinen Freunden. Wir gehen in Secondhand-Läden shoppen, treffen uns in Cafés, gehen ins Kino oder besuchen gemeinsam Partys. Meine Freunde nehmen sich immer Zeit für mich und wollen mir so viel Zeit schenken, wie es nur geht. Oft bin ich mit einer Clique aus sechs Freundinnen unterwegs. Ab und zu treffe ich mich auch mit ihnen einzeln. Von deren Familien werde ich immer herzlichst empfangen und sie sind sehr überrascht, wenn ich ihnen von mir und meinem Auslandsjahr erzähle. Durch meine Größe vergessen die meisten, dass ich auch erst 16 Jahre alt bin, sowie deren Kinder. Die Familien freuen sich immer, wenn ich ihnen von meinen Ausflügen erzähle und ihnen sage, wie schön das Land ist, in dem sie leben. 

Neben den zu überwindenden Tiefen überwiegen die positiven Eindrücke meines Auslandsjahres. Ich habe vieles schätzen gelernt: die zahlreichen Orte, die ich besuchen durfte, gemeinsam als Familie zu essen, denn das macht meine Gastfamilie nicht und die Freiheiten, die man in Deutschland als Jugendliche/r hat (mit Fahrrad zur Schule, keine stark konservativen Eltern, …).

Auch wenn ich Costa Rica lieben gelernt habe, vermisse ich schon sehr mein Leben in Deutschland und kann es kaum erwarten im Juli zurück zu kehren. Aber zuvor kommt noch meine Familie hierher und ich kann ihr „mein Costa Rica“ zeigen. Darauf freue ich mich riesig.

Für ein Jahr mal eine völlig neue Sicht auf sein Leben zu haben, eine neue Kultur kennen zu lernen, sich mit vielen Dingen auseinander setzen zu müssen und selbstständig zu sein, kann ich nur jedem empfehlen, der die Möglichkeit hat. Dafür ist das Land Costa Rica perfekt geeignet.
Ich werde die Zeit sehr vermissen, vor allem meine costa-ricanischen Freunde und meine Gastmutter, die mir in kürzester Zeit sehr ans Herz gewachsen sind. In den letzten Tagen habe ich oft darüber nachgedacht, ob man sich jemals wieder sehen wird, da Costa Rica kein Land ist, wo man mal schnell hinfliegt. Aber eines habe ich in diesem Jahr gelernt - wenn man etwas wirklich will und dafür kämpft, bekommt man es auch hin.

Ich genieße jetzt die letzten Wochen hier, bevor es in meinen alten Tagesablauf in Deutschland zurückgeht, aber ich blicke positiv auf die elf Monate.

Hasta luego!

Joleena!

nach oben